Tuesday, September 04, 2012

Ahnen und Ergründen


Since I have so many books of poetry that I can barely imagine reading them all, I have started reading the first poem in every poetry collection I own. In each case, I make a little note about whether the poem makes me want to read the rest of the book or not, and in a few cases, I have begun blogging about these "first poems." The first two cases were my recent posts on poems by Fleur Adcock and John Agard. The third poem that I read in this project and wanted to blog about is the poem by Henning Ahrens below. I tried writing my comments in English, but it was too complicated, so I've written this post in German. (And no, I don't want to translate it into English. At most summarize it, perhaps, if anyone is interested.)

Now that I've mentioned the project publicly, I'll have to see if I continue ... In any case, here's the German discussion of Ahrens's poem "Montag, du":

*

Hier ist das erste Gedicht aus Kein Schlaf in Sicht von Henning Ahrens (Fischer 2008).

MONTAG, DU

Die Maus liegt da, von der Falle erschlagen.
Das Kätzchen schleckt die Milch vom Teller.

Ich schau auf dem Boden nach, suche im Keller,
durchstöbere Schuppen und Wäschekammer,

aber du bist verschwunden. Die Puschen
im Flur sind noch fußwarm, dein Mantel

riecht regennass, und in der Dusche
liegen drei dunkle Haare. Das Kätzchen,

inzwischen gesättigt, schlüpft schnurrend
in mein Bett—o Mann, mir war immer

blümeranter ... Ich lösche die Lampen,
stolpere unterbelichtet durchs Zimmer,

ahnend: Man kann nicht alles ergründen.
Aber am Freitag werd ich dich finden.

Der vorletzte Vers dieses Gedichts lebt von der Spannung zwischen "ahnend" und "ergründen". Stereotyp kann man das so auslegen: es gibt Gefühle (Ahnungen), die nicht rational zu erklären sind, und wenn sie rational erklärt werden, dann sind sie keine Gefühle mehr. Dieses Gedicht zeigt aber mit seinen Bildern, dass Gedichte eine solche stereotype Gegenüberstellung untergraben können.

Dieser vorletzte Vers beginnt mit "ahnend" und endet mit "nicht ... ergründen". Das Ergründen erscheint aber zuerst im Gedicht (ab dem dritten Vers), das erst später (ab etwa dem elften Vers) mit dem Ahnen anfängt. Ab dem dritten Vers sucht das Ich das Du. Die Suche führt "auf den Grund", in dem sie immer in die Tiefe und in abgelegene Plätzen im Haus führt: Boden, Keller, Schuppen, Wäschekammer. Das Ich "ergründet" also das Verschwinden des Dus, indem es auf verschiedene Arten auf "Gründe" geht. Die Zeilen sind eine Beschreibung des Ergründens und gleichzeitig eine poetische Darstellung eines Auf-den-Grund-Gehens.

Nach der Feststellung, dass das Du tatsächlich nirgends zu finden ist, sucht das Ich nach einer Erklärung für sein Verschwinden und findet Spuren von seiner Anwesenheit in den Puschen, im Mantel und in der Dusche. Alles deutet darauf hin, dass das Du erst vor kurzem verschwunden ist, aber sie lassen keine Erklärung zu, was mit ihm passiert ist. Wenn das erste Teil dieser bildlichen Ergründens eine räumliche Erfahrung des "Auf-den-Grund-Gehens" darstellt, erscheint hier das Ergründen mit der "Fusswärme", dem Geruch und den drei Haaren in der Dusche als eine körperliche Erfahrung.

Nach einem kurzen Intermezzo mit dem Kätzchen kommt eine poetische Darstellung des Ahnens: "Ich lösche die Lampen, / stolpere unterbelichtet durchs Zimmer". Das Ahnen erscheint hier vor seiner expliciten Erwähnung am Anfang des nächsten Verses (bzw. des letzten Zweizeilers) wieder als eine räumliche und körperliche Erfahrung (der Dunkelheit bzw. des Stolperns), die gleichzeitig eine Selbstentwertung mit sich bringt: man fühlt sich "unterbelichtet"—unfähig also, die Situation zu ergründen.

Bevor das Gedicht also zu der Schlussfolgerung über Ahnen und Ergründen kommt, hat es schon die Bewegung von Ergründen zum Ahnen in der Bewegung vom Ich durch das Haus poetisch dargestellt. Nur danach wird die Ahnung festgestellt, dass ein vollständiges Ergründen nicht möglich ist. Die Bildlichkeit des Gedichts beweist aber gleichzeitig das Gegenteil: mit poetischen Mitteln kann man Ergründen und Ahnen gleichermassen darstellen, und somit die Spannung zwischen den beiden sowohl ausnutzen wie auch aufheben. 

Aber die letzte Zeile fängt mit einem "Aber" an, das gleichzeitig das "aber" am Anfang dieses Satzes ist, ein "Aber" gegen diese Auslegung von Bildern von geahnter Unergründbarkeit und ergründeter Ahnung. "Aber am Freitag werd ich dich finden" ist nicht "Ahnung" sondern eine Feststellung, als ob das Ich eigentlich wissen würde, dass das Du nur von Montag bis Freitag verreist ist. Erst kippt das Gedicht vom Ergründen ins Ahnen (das aber durch seine Bildlichkeit auch ergründet wird), dann kippt es "aber" wieder in die Sicherheit von dem, was man weisst, und nicht nur ahnt.

So liegt der Schluss nahe, dass das Gedicht doch die beschriebene Situation "ergründet". Nach dieser Lesart bildet das Gedicht ab, wie man doch "alles ergründen kann", wie man eigentlich sicherer sein kann, als man ahnt—und wie Ahnen selber eine Art Ergründen ist. Aus dieser Sicht hat die Lyrik eine ungeheuere Kraft, die hier gefeiert wird: mit ihren eigenen Mitteln ergründet sie den Graben zwischen Gefühlen (Ahnen) und Vernunft (Ergründen), indem sie die beiden Seiten des Grabens verbildlicht. Rationale Erklärung kann genausogut in Bildern dargestellt werden wie die Gefühle, die sonst als das Thema für Lyrik verstanden wird.

Aber es muss noch einmal ein Aber her, da diese Lesart Maus und Kätzchen ignorieren muss. Man kann die Abwesenheit des Dus ergründen, indem man genau liest, wie das Ich die Situation beschreibt, und zum Schluss kommen, dass das vollständige Ergründen durch die Poesie doch möglich ist. Aber die tote Maus und das Kätzchen sind der Ausgangspunkt des Gedichts, und das Kätzchen erscheint später wieder. Die Tiere sind so beschrieben, dass man sie nicht als Bilder des Ahnens lesen kann. Aber sie sind auch nicht als Bilder des Ergründens zu deuten. Die tote Maus in der Falle, das Milch schleckende Kätzchen, später das "inzwischen gesättigte" Kätzchen, das "schnurrend in mein Bett schlüpft"—diese sind keine Bilder, die in der Spannung zwischen Ahnen und Ergründen zu verstehen sind. Die Bilder, die mit dem Verschwinden des Dus zu tun haben, sind alle innerhalb dieser Spannung auszulegen, aber das Gedicht als Ganzes enthält diese anderen Bilder, die der berauschenden Macht dieser Lesart widerstehen.

Wenn das heisst, das man nur ahnen kann, warum Maus und Kätzchen hier überhaupt vorkommen, dann ist man wieder beim Vers gelandet, womit diese Auslegung angefangen hat: "ahnend: man kann nicht alles ergründen." Damit hätte man aber die Tierbilder doch ergründet ...?

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